Seit etwa 20 Jahren ist der Minimalschnitt bei den Reben ein Thema in Forschungsanstalten, seit drei bis vier Jahren findet er in der Praxis in unserer Region erste Anwendung. Das Ziel: Arbeitsstunden und Kosten durch Wegfall von Heft- und Bindearbeiten sowie Minimierung von Rebschnitt zu reduzieren. Denn die wirtschaftliche Situation auf dem Weinmarkt erfordert neues Denken und Handeln. Wie gewohnt fortzufahren, ist keine Alternative. Der bisherige Zeit- und Kostenaufwand steht in keinem positiven Verhältnis zu den zukünftigen Einnahmen. Also ist Umdenken angesagt.
Aus diesem Grund haben sich vier Bötzinger Winzer einem neuen Projekt verschrieben: dem Minimalschnitt. Samuel Lay, Florian Höfflin, Markus Kanzinger und Jürgen Brodbeck wollen jeder für sich, aber gleichzeitig auch gemeinsam, die neue Struktur ausprobieren, Erfahrungen sammeln und die jeweils beste Strategie davon ableiten. Jeder der vier Winzer nutzt dafür einen Bruchteil seiner Betriebsfläche. Somit bleibt das Risiko für alle überschaubar. Bisher hatten sie immer gute Qualitäten erzielt. Und Veränderungen sind oft nicht leicht, wenn das Jetzige gut funktioniert. Nun lässt die angespannte Lage die Winzer Neuland betreten. Aber, so Samuel Lay, sind sie eine Winzergeneration, die schon viel Neues angeschoben und dadurch notwendige Umstellungen ermöglicht hat. Auch diese Herausforderung werden sie bewältigen.
Das Für und Wider in permanenter Abwägung
Nun stehen erst einmal wichtige Arbeiten an. Zusätzliche Pfähle wurden in den Reihen der Fläche von Samuel Lay etabliert, um die Abstände zwischen den Pflanzen zu verkürzen, auch mehr Drähte gezogen. Bei der Umstellung wird das Altholz auf den gesamten Drahtrahmen verteilt und befestigt. Gegenüberliegende Spanndrähte müssen gut zusammengeheftet werden. Die Rebstöcke bekommen nun mehr Volumen und bieten dadurch dem Wind mehr Angriffsfläche. Dafür müssen sie gerüstet sein. Dieses veränderte Erziehungssystem macht die Pflanzen zusätzlich unempfindlicher gegenüber Frost, Hagel und Sonnenbrand oder Wildschäden.
Da die Trauben jetzt nicht nur im unteren Bereich hängen, sondern in der gesamten Laubwand der Rebe verteilt und mit dichtem Blattwerk bedeckt sind, benötigen sie von Natur aus eine besonders gute Durchlüftung. Dafür wird jede zweite Reihe der bestehenden Reben entfernt. Der Abstand zwischen den Reihen ist nun deutlich größer. So kann auch mit den Maschinen durchgefahren werden, denn die Reben wachsen jetzt mehr in die Breite. Zusätzlich wirft die Reihe durch das dichtere Grün mehr Schatten auf den Boden. Das bedeutet weniger Verdunstung. Möglicherweise ein weiterer Vorteil des Minimalschnitts. Eventuell benötigen diese Anlagen insgesamt aber auch mehr Wasser. Die Erfahrung wird es mit der Zeit zeigen. Wie bei vielen Entscheidungen der neuen Herangehensweise.
Ein weiterer Punkt ist der mögliche Pilzbefall der Trauben unter dem dichten Laub. Bei höherer Feuchtigkeit sind sie anfälliger. Also ist auch die Gesunderhaltung ein wichtiges Thema. Aber es gibt auch einen Vorteil beim Minimalschnitt. Der Holzpilz Esca, der sich gerne in die frisch geschnittenen Wunden des Rebstockes setzt und nach unten „frisst“, hat durch den minimalen Schnitt kaum mehr die Möglichkeit, die Pflanze zu befallen. Insbesondere bei jungen Anlagen. Auch bei möglichem Spätfrost sind nicht alle Knospen gefährdet. Da die Kälte am Boden entlangfließt, bleiben die oberen Knospen vom Erfrieren möglicherweise verschont. Die Beiknospen haben zudem die Möglichkeit, später noch auszutreiben. Auch hier bringt die Erfahrung mehr Wissen.
Ausprobieren und für später die richtigen Entscheidungen treffen
Viele Fragen stehen im Raum: Welcher Zeitpunkt ist der optimale für den minimalen Rebschnitt, damit das Spalier erhalten bleibt? Nimmt man beim Laubschnitt einmalig viel Laub weg? Wie reagiert die Rebe darauf? Schneidet man eher im Sommer oder im Winter? Wie ist der Wuchs von der jeweiligen Bodenfeuchte abhängig? Im ersten und vielleicht auch im zweiten Jahr ist ein perfektes Ergebnis kaum möglich. Es gibt einfach noch zu viele Unbekannte.
Daher ist es von Vorteil, dass alle vier Winzer mit der neuen Struktur starten und sich untereinander austauschen. Dabei sind Lage, Bodenbeschaffenheit und Rebsorten der vier Rebstücke unterschiedlich. Der Abstand zwischen den Reihen ist ein anderer, die Handhabung weicht etwas voneinander ab. Nur so können die engagierten Winzer die verschiedenen Herangehensweisen und Erkenntnisse gegeneinander abwägen und den jeweils richtigen Weg für sich herausfinden. Das wird einige Zeit dauern, so Samuel Lay und Florian Höfflin.
Erst einmal muss der Rebstock „umerzogen“ werden. Bisher war er jedes Jahr einen radikalen Rückschnitt gewohnt. Darauf hat sich die Pflanze eingestellt und im neuen Jahr mit enormem Wachstum reagiert. Nun muss sie lernen, dass es keinen Rückschnitt geben wird und sie somit deutlich weniger wachsen und insgesamt weniger Trauben ansetzen muss. Auch das wird etwa zwei bis drei Jahre in Anspruch nehmen. Bis dahin oder auch darüber hinaus müssen im Sommer die erbsengroßen grünen Beeren von der Erntemaschine teilweise ausgeschlagen und reduziert werden. Dadurch wird die Traubenstruktur aufgelockert, das Blatt-Fruchtverhältnis verbessert. Auch ein geringeres Risiko von Traubenfäulnis wird dadurch erreicht. Das bedeutet insgesamt weniger Verluste und ein gesünderes Lesegut. Gerade in den ersten Jahren dürfen die Winzer die Qualität der Ernte nicht aus den Augen verlieren. Möglicherweise können sie das jetzt schon hohe Qualitätsniveau mit deutlich weniger Arbeitszeit sogar noch verbessern.
Für die Sicherung der Zukunft auf dem richtigen Weg
Insgesamt sprechen viele Vorteile für das neue System, das sicher einen wichtigen Scheidepunkt einläutet. Bis zu zwei Drittel der Arbeitszeit, so schätzen die Winzer, können insgesamt eingespart werden. Denn gerade Heften und Rebschnitt zählen zu den zeitaufwändigsten Tätigkeiten im Weinberg. Auch sind die Trauben i.d.R. acht bis zehn Tage später reif als beim normalen System. So würde sich die Lese, die sowieso immer früher startet, ein wenig entzerren und entspannter ablaufen. Sowohl für die Winzer als auch für den Keller. Gerade bei den Weißweinsorten kann durch das langsamere Reifen zusätzlich das Mostgewicht reduziert, das Risiko von zu hohem Alkoholgehalt minimiert werden.
Samuel Lay, Florian Höfflin, Markus Kanzinger und Jürgen Brodbeck starten jetzt erst einmal mit zwei Rebsorten: dem Spätburgunder und dem Müller-Thurgau. Dann sind weitere Sorten vorgesehen. Bei Gewürztraminer und Sauvignon Blanc ist beispielsweise eine andere Entblätterung notwendig. Auch der Minimalschnitt bei Piwis (pilzwiderstandsfähigen Sorten) ist geplant. Hier spielt zusätzlich die geringe Pilzanfälligkeit in die Karten. Aber das ist vorerst noch Zukunftsmusik. Nun geht es darum, Fingerspitzengefühl zu bekommen, Erfahrungen zu sammeln und die richtigen Konsequenzen daraus zu ziehen.
Die Vier sind sehr optimistisch, hier ein zukunftsfähiges System zu entwickeln. Eines, das die Weinbranche und die Bötzinger Winzer für die Zukunft rüstet. Immer mit dem Ziel, Ertrag und Qualität auf höchstem Niveau zu erhalten und, wenn möglich, sogar zu verbessern.