Vier Monate ist es nun schon her, dass die sonst so idyllische Ahr mit ihrer Flut das gesamte Tal in eine Katastrophe gestürzt hat. Nichts ist mehr so wie vorher. Jede Menge Schicksale, Betroffene, Verzweifelte, Hilfesuchende. Wer einmal dort war, ist erschüttert von der Situation vor Ort. In den letzten Monaten ist schon sehr viel passiert. Trotzdem herrscht überall noch Chaos.
Winzer Markus Kanzinger hatte 2015 mit Frau Dorothea eine Weinreise ins Ahrtal unternommen. Und zwar nach Dernau. Einem Ort, den es heute nicht mehr so gibt wie sie ihn vor sechs Jahren kennengelernt hatten. Damals besuchten sie das Weingut der Gebrüder Bertram. Und tauschten sich aus, von Winzer zu Winzer. Daran musste Markus nach der Flutkatastrophe immer wieder zurückdenken.
Über den Meininger Newsletter kam der Aufruf, die Ahrtaler Winzer bei der Ernte zu unterstützen. Direkt nach Ende der eigenen Lese machte sich Markus Kanzinger auf den Weg. Relativ spontan und eher ins Blaue hinein. Nur mit Herbstschere, Bohrmaschine und Akkuschrauber ausgestattet, ist der Bötzinger auf gut Glück los. Und was er vor Ort erlebt hat, ist gleichzeitig faszinierend wie aufrüttelnd. Eine vollkommen andere Welt, in die der sonst so strukturierte Winzer eingetaucht ist.
Die Hilfsbereitschaft ist enorm - und professionell organisiert
Die Hilfe im Ahrtal wird über den Helfer-Shuttle organisiert. Diese koordinieren tagtäglich alle Helfer über ein „Camp“ am Eingang des Ahrtals. Betroffene können hier Hilfe anmelden, Freiwillige werden eingeteilt und mit Shuttles an die richtige Stelle gefahren. Jeder weiß, was er zu tun hat. Jede Hilfe wird professionell organisiert. Man kann einfach hierherkommen. Auch nur für ein oder zwei Tage. Und: wirklich jede Hilfe ist notwendig. Insgesamt 191.278 Helfer (Stand: 18. November 2021) konnten bisher an die betroffenen Orte gebracht werden. Es ist beinahe unglaublich, aber täglich treffen hier bis zu 500 Helfer ein. 5.000 allein waren für die Weinlese da. An einem Tag wurden sogar schon mal 2.200 Freiwillige ins Tal gefahren. Doch nach wie vor ist Hilfe dringend notwendig.
Stand jetzt wurden alle gefluteten Häuser auf Rohbau zurückgebaut. Die Trockner laufen auf Hochtouren, um die Nässe aus den Wänden zu bekommen. Wichtig ist nun, alle Heizungen funktionsfähig zu machen. Gerade jetzt werden insbesondere Handwerker wie Schreiner, Zimmermänner oder Heizungsbauer gesucht.
Die stark betroffene Winzergenossenschaft Maischoß gibt nicht auf
Gleich am Morgen bei seiner Ankunft wurde Markus Kanzinger zur Weinlese bei den Winzern Achim und Gabi Nietgen eingeteilt. Diese hatten ihren letzten Lesetag. Und boten dem Freiwilligen auch gleich die Wohnung ihres Sohnes an, der aktuell beim Studium ist. Ein Angebot, mit dem der Bötzinger überhaupt nicht gerechnet hatte. Die nächsten drei Tage war er dann mit Winzer Tomas Schuhmacher in den Reben unterwegs. Anschließend half er bei der Renovierung eines Fachwerkhauses aus dem Jahre 1738.
In dieser Zeit lernte Markus Kanzinger die Kellermeisterin der Winzergenossenschaft Maischoß, Astrid Rickert, kennen. Die WG besteht schon seit 1868 und ist die älteste Winzergenossenschaft der Welt. Bötzingen ist die älteste Weinbaugemeinde Badens. Wenn das nicht verbindet – was dann? Der gesamte Flaschenkeller mit etwa 4,5 Metern Höhe war mit Schlamm gefüllt, erzählte Astrid Rickert.
Wenn die vielen freiwilligen Helfer nicht gewesen wären und das THW tagelang frisches Wasser in den Keller gepumpt hätte, um den Dreck auszuspülen, würden sie hier immer noch im Schlamm stecken. Etwa 1,2 Millionen fertige Flaschen lagerten hier zum Verkauf. Nach der Flut vollkommen verdreckt und teilweise kaputt. Dank einer Spülmaschine, die der Winzergenossenschaft zur Verfügung gestellt wurde, konnten alle Flaschen gespült werden. Das Ganze dauerte mehrere Wochen bis Mitte Oktober. Allerdings sieht man es den Flaschen immer noch an, insbesondere den Etiketten.
Viele Einzelschicksale und Tragödien, aber auch riesige Dankbarkeit
Astrid Rickert wohnt direkt an der Ahr. Sie saß mit ihrer Familie im Dachgeschoss bei Kerzenschein und beobachtete das Wasser, dass sich immer mehr die Treppen hinaufarbeitete. Noch zwei Stufen und das Wasser hätte sie auch hier erreicht. Winzer Achim hingegen war in jener Nacht auf dem Rebberg. Er leuchtete mit seiner Taschenlampe über das geflutete Tal und rief den Leuten zu, die sich teilweise auf den Dächern ihres Hauses in Sicherheit gebracht hatten, durchzuhalten und nicht aufzugeben. Hier haben sich Tragödien abgespielt, die sich Außenstehende kaum vorstellen können. Und die Not ist nach wie vor groß. Viele der Betroffenen waren gegen solche Naturkatastrophen nicht versichert. Und sind auf Unterstützung angewiesen. Auch finanzieller Art. Jeder Euro kann helfen.
Doch der Zusammenhalt im Ahrtal ist enorm. Verschiedene Wirtschaften haben in der Winzergenossenschaft eine Küche eingerichtet. Abwechselnd wird hier gekocht. Jeder, der möchte, kann zum Essen kommen. Trotz der ernsten Lage sind die Betroffenen recht zuversichtlich und entspannt. Jeden Tag wird gemeinsam angepackt, wo was zu machen ist. Das schweißt zusammen. Das motiviert.
Und die Dankbarkeit, so Markus Kanzinger, ist grenzenlos. Er wurde als Helfer mehr als herzlich aufgenommen. Und nicht ohne Weingeschenke wieder nach Hause gelassen.
Aufruf zur Hilfe für die Winzer im Ahrtal: freiwillige Helfer gesucht
Der Aufenthalt im Ahrtal hat den Winzer geprägt. Er möchte weiterhelfen. Doch nicht allein. Vielmehr möchte er Winzerkollegen motivieren, Anfang nächsten Jahres gemeinsam ins Ahrtal zu fahren. Und dort gemeinsam zu helfen. Ganz konkret in der Winzergenossenschaft Maischoß. Sozusagen Hilfe von Winzer für Winzer. Markus Kanzinger ist zuversichtlich, diese Reise mit einer Handvoll Mitstreiter organisieren zu können. Denn der Bedarf an Helfern ist nach wie vor enorm. Und gerade die Weinbranche im Ahrtal ist von der Flutkatastrophe sehr betroffen.
Und noch einen Wunsch hat Markus Kanzinger. Er möchte das Ahrtal irgendwann wieder einmal mit seiner Familie bereisen. Und hoffentlich sehen, dass sich die Region und die Menschen von dem schrecklichen Ereignis in 2021 erholen konnten. Dass die Ahrtaler wieder ein normales Leben führen. Und dass die Winzer ihre Lese wieder einbringen und die Weine verkaufen können.
Denn nicht umsonst heißt es: „Alle 10 Minuten verliebt sich ein Helfer ins Ahrtal.“